Lustvolles Entsetzen

Betrachtet man die auf kreuz.net publizierten Artikel zum Thema Sexualität, stellt man fest, dass die Macher der Seite auf geradezu pubertäre Art und Weise irgendwo zwischen Faszination und Ekel zu schwanken scheinen. Sehr anschaulich zeigen dies die vielen Details über diverse Sexualpraktiken, die man voyeuristisch ausbreitet. So wurde am 7. März 2007 in aller Ausführlichkeit aus dem Interview mit einem Schauspieler zitiert, in dem es hieß: »Ich war noch nie in einem Darkroom und habe mir immer vorgestellt, dass es nur ein dunkler Raum ist. Tatsächlich ist dieser Darkroom wie ein kleines Labyrinth, und in Schwanzhöhe sind überall in die Wände Löcher gebohrt.« Mehr als drei Jahre später suhlt man sich noch immer genüsslich im Verbotenen. So hieß es am 25. August 2010 in einem Artikel über das »wahre Gesicht der staatlich hofierten Homo-Schweinereien«: »Dann muss die unschuldige Zahnbürste daran glauben. Sie soll als Werkzeug zur Sodomisierung herhalten. Der Entartung nicht genug: Selbst Zahnpasta wird von manchen gerne als Schmiermittel verwendet: Colgate-Fans schwören auf den kühlen und leicht brennenden Effekt. Letzterer ist ein Vorgeschmack auf die für die Homosexuellen bestimmte Endstation.«

Auch die zahlreichen, oftmals von Nachrichtenagenturen oder anderen Internetseiten gestohlenen Fotografien, die spärlich bekleidete Menschen auf CSD-Umzügen zeigen und die meisten »Homo-Unzuchts«-Beiträge der »frommen« Seite gleich als ganze »Photomeile« schmücken, sprechen für sich.

Die redaktionellen Kommentare unter den Fotos bilden den Gipfelpunkt klerikaler Bigotterie: »Ein Bild des Menschen, der zum geschändeten Sklaven seiner unbeherrschten Triebe geworden ist« (25. 3. 2008), oder: »Der Bademeister führt seit Jahren ein Doppelleben zwischen Familie und finsteren Homo-Höhlen in Hamburg« (7. 3. 2007), oder: »Perversions-Priester Paul zwischen zwei widernatürlichen Prostituierten in einer Homo-Hölle in Rom« (23. 7. 2010). Teils erinnert das an die Titel von Billigpornos, teils an die seufzenden Kommentare von alten Damen, die sich am Rande eines FKK-Strandes niedergelassen haben, von dort aus mit einem Opernglas alles ganz genau beobachten und mit lustvollem Entsetzen kommentieren. Mit jenem moralischen Entsetzen, das jedem Kundigen die stille Trauer verrät, nicht an dem Treiben teilhaben zu dürfen.

Wie bereits angedeutet, hat man bei kreuz.net eine besondere Vorliebe für den Islamismus, in dem man den wichtigsten Kampfgefährten gegen das Weltjudentum, den »Blut- und Homopräsidenten« der Vereinigten Staaten und die westliche Dekadenz sieht. Immer wieder werden einschlägige Reden des iranischen Diktators Ahmadinedschad in Übersetzung publiziert oder Beiträge von der bereits erwähnten Seite muslim-markt.de übernommen. Unter den Autoren der nicht anonym veröffentlichten kreuz.net-Beiträge sind ein wegen Volksverhetzung Verurteilter und ein Mann, der sich als österreichischer »Pornojäger« bezeichnet, sowie »Deutschlands führende Homophobe« (so das Urteil des Historikers und Publizisten Hans-Georg Stümke über die betreffende Dame).

Aber auch so manche Persönlichkeit aus dem Düsseldorfer Herrenabend-Netzwerk taucht hier als Autor wieder auf, manche sogar unter ihrem Klarnamen. Selbst Tote lässt man als Autoren wiederauferstehen. So brachte kreuz.net im Januar 2009 eine Rede Heinrich Himmlers, in der dieser die massenhafte Vernichtung der Juden als Notwehr des deutschen Volkes zu rechtfertigen sucht. Solche Artikel geben, ausgestattet mit bestimmten Signalen, jeweils den Anstoß für die Leser, im Forum völlig unkontrolliert ihre Meinungen zu posten. Gelöscht wird in diesem Bereich von der Redaktion fast nur Kritik an Persönlichkeiten und Organisationen aus dem rechtskatholischen Spektrum. Besonders auffällig ist dabei, dass Lesermeinungen, die sich kritisch zur »Gesellschaft zum Schutz von Tradition, Familie und Privateigentum« (TFP) äußerten, nicht selten schon innerhalb weniger Minuten von den Administratoren gelöscht werden. Nur ein Zufall?

Die Aufrufe zur Gewaltanwendung, ja sogar zum Mord an modernen Geistlichen, bekennenden Homosexuellen oder Feministinnen lässt man dagegen schon mal stehen, selbst wenn sie mit der Privatadresse der »Feinde des Glaubens und der guten Sitten« versehen sind. Interventionen von Seiten der Betroffenen mit der Aufforderung, diese Aufrufe zu löschen, bleiben in den meisten Fällen erfolglos und häufig sogar unbeantwortet.

In den Leserkommentaren auf kreuz.net wird auch gern der Iran als Musterland dargestellt, denn dort sei man nicht von den verrückten Ideen des Liberalismus angesteckt und wisse noch, was mit unzüchtigen Menschen zu tun sei: »Schafft die Baukräne ran! Die Relativisten, die säkularen Staaten sind eure Todfeinde. Die Muslime stehen uns hundertmal näher als jedes ungläubige Homoschwein!« (22. April 2009) Angespielt wird hier auf die Hinrichtung von zwei minderjährigen Jungen im Iran, die im Juli 2005 wegen angeblicher homosexueller Handlungen zum Tode verurteilt und an Baukränen erhängt wurden.

Dieser Kommentarteil, der bisweilen an die tausend Posts zu einem Artikel umfasst (!), zieht geradezu magisch alle möglichen ideellen Exhibitionisten des rechtskatholischen Spektrums an, die ihre radikalen Äußerungen in anderen Organen nicht veröffentlichen können oder nicht den Mut haben, mit ihrem Namen dafür einzustehen, und die hier nun auf ein größeres Publikum hoffen.

Ein erschreckendes Beispiel hierfür ist ein Kommentar der am 28. Juli 2010 nach dem Unglück bei der Love-Parade in Duisburg auf kreuz.net zu lesen war: »Die Love-Parade als Selbstverherrlichungs-Orgie der Verdammten aus der Unterschicht gehört in den Orkus der Geschichte. Solche Dinge passieren üblicherweise, wenn 60 bis 70 Jahre Frieden das Unkraut im Volk hochschießen lässt. Kondome und Pille taten in den letzten Jahrzehnten ihr Übriges dazu bei, dass sich dieser Menschenmüll auf beispiellose Weise vermehren konnte. Es ist Zeit, es ist allerhöchste Zeit, dass dieser Unrat von der nächsten Sintflut aus den Straßen gewaschen wird.«

Jeder Insider weiß natürlich, dass diese Internetseite besonders im Hinblick auf ihren Sprachstil und ihren Radikalismus nicht die offizielle katholische Position wiedergibt, von der Öffentlichkeit wird sie dennoch nicht selten so wahrgenommen. Und daran ist die katholische Kirche nicht ganz unschuldig. Schließlich kam die offizielle Distanzierung auch der deutschen Kirche sehr spät, und zwar erst, als die großen Medien im Zusammenhang mit dem Fall Williamson auf kreuz.net aufmerksam geworden waren. Zu diesem Zeitpunkt war die Seite schon fast vier Jahre überaus aktiv und hatte die Zahl ihrer Leser innerhalb dieses Zeitraums enorm steigern können.

Auch wenn ich manches, was in ultrakonservativen katholischen Kreisen falsch lief, erst später durchschaute, habe ich schon sehr früh vor dem Imageschaden gewarnt, der der gesamten katholischen Kirche in Deutschland durch kreuz.net droht. Allerdings stieß ich damit auf keinerlei Resonanz bei der katholischen Amtskirche. Stattdessen wurde meine Person zu einem Hassobjekt der Internetseite - eine Aversion, die bis heute anhält und ausgiebig ausgelebt wird. Diese Aversion hat sich dann aufgrund der großen Beliebtheit von kreuz.net bei konservativen Katholiken sehr schnell auch auf andere Kreise ausgeweitet.

Im Grunde ist es müßig, darüber zu rätseln, wer hinter kreuz.net steht. Die Medien haben dies bereits ausführlich getan und dabei die Nähe zu Umgangston und Positionen von »ehrenwerten Gesellschaften« konstatiert, die hier bereits angemessen »gewürdigt« worden sind. Entscheidend ist vielmehr, dass kreuz.net sehr erfolgreich und ohne diplomatische Rücksichten lediglich die Signale umsetzt und konsequent überspitzt, die seit einigen Jahren der Papst, viele der von ihm favorisierten Kirchenfürsten und natürlich die von ihm umworbenen konservativen Kreise aussenden. Was bei kreuz.net »Rechtsholocaust« heißt, das nennt Benedikt etwas diplomatischer »Diktatur des Relativismus«.

Die gemeinsame Marschroute von kreuz.net und konservativen Teilen der Amtskirche zeigt sich ebenfalls deutlich am Beispiel der zitierten Tirade gegen die Opfer der Love-Parade. Dass der von einem tiefen Menschenhass geleitete kreuz.net-Schreiber hier gar nicht so weit von der Position konservativer Bischöfe entfernt war, lässt sich an einem Kommentar ablesen, den kurz darauf, am 5. August 2010, der österreichische Bischof Andreas Laun auf kath.net veröffentlichte: Das Unglück von Duisburg sei eine Strafe Gottes für eine Veranstaltung, die gegen die Schöpfungsordnung verstoße und zur Sünde einlade. Gott liebe die Menschen so sehr, dass er sie mit solchen Aktionen auf den rechten Weg zurückführen wolle. Und dann klagt Laun: ».Man weigert sich anzuerkennen, dass die Love-Parade, abgesehen von ihrem krankhaften Erscheinungsbild, auch mit Sünde zu tun haben könnte und darum, folgerichtig, auch mit dem richtenden und strafenden Gott!«

Es ließen sich noch viele andere Beispiele für die erschütternde Tatsache anführen, dass kreuz.net lediglich das holzschnittartig bis karikaturenhaft verzerrte Bild einer kirchlichen Ideologie spiegelt, wie sie offensichtlich seit einigen Jahren immer mehr auch von Rom gewollt ist und durch Männer wie Laun, der ein devoter Gefolgsmann Benedikts XVI. ist, in der Öffentlichkeit verbreitet wird. Wie am Zitat Launs und an den permanenten Sintflut- und Höllendrohungen bei kreuz.net deutlich wird, hat hier die Frohbotschaft des Evangeliums einer schroffen Drohbotschaft und einem extrem pessimistischen Menschenbild Platz gemacht.

So verwundert es nicht, dass der General der Piusbruderschaft, der vom Papst vor zwei Jahren ebenfalls rehabilitierte Bischof Bernard Fellay, aus seinen Sympathien für kreuz.net kein Hehl macht. Er stehe - obgleich die Piusbruderschaft für das »Machen« der Seite nicht verantwortlich zeichne - hinter dem dort sichtbar werdenden »Bemühen, irgendwie eine traditionellere oder konservativere Linie zu verteidigen in der Kirche, gerade im deutschen Sprachraum«, sagte der Piusbischof in einem Interview für das kreuz.net nahestehende Internetportal Gloria.tv am 1. Dezember 2009.

Damit stellt sich der Oberste der Piusbrüder ganz auf die Seite der immer einflussreicher werdenden Kräfte im Vatikan. Oder besser gesagt, das vatikanische Denken ist zunehmend in Richtung der Positionen der zweifelhaften Bruderschaft und des sie umgebenden erzreaktionären Milieus abgerutscht. Ja, man hat den Eindruck, dass sich dieses Abrutschen nach dem Prinzip der schiefen Ebene in den letzten zwei Jahren immer mehr beschleunigt und intensiviert hat.

In diesem Zusammenhang schrieb mir ein Pfarrer aus Nordrhein-Westfalen, der in seinem Bistum wegen seines Einsatzes für die alte Liturgie und seiner freundschaftlichen Nähe zur Piusbruderschaft bekannt ist: »Unabhängig davon, dass kreuz.net natürlich eher mit dem Image der Bildzeitung kompatibel ist als mit dem der F.A.Z., die Seiten werden gelesen. Und auch ungeachtet von manchen Abseitigkeiten in Berichten und Leserkommentaren, die Verbreitung vieler wichtiger Kritikmomente wird dort ungebremst an den Leser gebracht - auch in vatikanischen Büros, von denen ich weiß, dass in ihnen morgens erst einmal nach dem Öffnen der Fensterschläge bei kreuz.net nachgeschaut wird, was es Neues gibt.«

Der heilige Schein
titlepage.xhtml
Der heilige Schein__split_000.htm
Der heilige Schein__split_001.htm
Der heilige Schein__split_002.htm
Der heilige Schein__split_003.htm
Der heilige Schein__split_004.htm
Der heilige Schein__split_005.htm
Der heilige Schein__split_006.htm
Der heilige Schein__split_007.htm
Der heilige Schein__split_008.htm
Der heilige Schein__split_009.htm
Der heilige Schein__split_010.htm
Der heilige Schein__split_011.htm
Der heilige Schein__split_012.htm
Der heilige Schein__split_013.htm
Der heilige Schein__split_014.htm
Der heilige Schein__split_015.htm
Der heilige Schein__split_016.htm
Der heilige Schein__split_017.htm
Der heilige Schein__split_018.htm
Der heilige Schein__split_019.htm
Der heilige Schein__split_020.htm
Der heilige Schein__split_021.htm
Der heilige Schein__split_022.htm
Der heilige Schein__split_023.htm
Der heilige Schein__split_024.htm
Der heilige Schein__split_025.htm
Der heilige Schein__split_026.htm
Der heilige Schein__split_027.htm
Der heilige Schein__split_028.htm
Der heilige Schein__split_029.htm
Der heilige Schein__split_030.htm
Der heilige Schein__split_031.htm
Der heilige Schein__split_032.htm
Der heilige Schein__split_033.htm
Der heilige Schein__split_034.htm
Der heilige Schein__split_035.htm
Der heilige Schein__split_036.htm
Der heilige Schein__split_037.htm
Der heilige Schein__split_038.htm
Der heilige Schein__split_039.htm
Der heilige Schein__split_040.htm
Der heilige Schein__split_041.htm
Der heilige Schein__split_042.htm
Der heilige Schein__split_043.htm
Der heilige Schein__split_044.htm
Der heilige Schein__split_045.htm
Der heilige Schein__split_046.htm
Der heilige Schein__split_047.htm
Der heilige Schein__split_048.htm
Der heilige Schein__split_049.htm
Der heilige Schein__split_050.htm
Der heilige Schein__split_051.htm
Der heilige Schein__split_052.htm
Der heilige Schein__split_053.htm
Der heilige Schein__split_054.htm
Der heilige Schein__split_055.htm